Métrique et structures rythmiques

Die lateinische Sprache im Mittelalter kennt zwei Möglichkeiten, einen Text oder Teile davon in Versen zu strukturieren. Einerseits werden aus der klassischen Antike die geregelte Abfolge von kurzen und langen Silben übernommen. Dieses Strukturierungsprinzip wird als metrische Dichtung bezeichnet. Zum anderen kommt die sogenannte rhythmische Dichtung zum Einsatz, die auf bestimmten Regelmässigkeiten in der Verteilung der betonten und unbetonten Silben beruht. Diese zweite Form kann als typisch mittelalterlich bezeichnet werden, obwohl auch sie ihre Wurzeln in der Spätantike hat. Zu beiden Formen kann der Reim als Schmuckelement hinzukommen.

Die Versform, insbesondere die beiden wichtigsten Formen des metrischen Verses, der Hexameter und das Distichon (bestehend aus einem Hexameter und einem Pentameter), gehört zu den wesentlichen Gestaltungsmitteln mittelalterlicher Autoren. Sie wird sowohl in der Kleinform angewendet (Inschrift, Titulus, Widmung) als auch bei den umfangreichen Textformen (Heldenepos, Lehrgedicht). Die Kenntnis der grundlegenden Versformen erleichtert auch das Verstehen bestimmter lexikalischer und syntaktischer Besonderheiten in einem Text.

Anfang eines Marienhymnus um 1300, Hexameter:

Anfang der Inschrift an der Fassade der Laterankirche in Rom, leoninische Hexameter:

Anfang eines Marienhymnus um 1000, Distichen:

Beispiele für mittelalterliche Hexameter, Leoniner und Distichen.
Rom, S. Giovanni in Laterano, Kreuzgang, Fragmente der Architrav-Inschrift der ehemaligen Vorhalle der Laterankirche (Foto Senekovic).
Die Fragmente der Originalinschrift (um 1200) befinden sich heute im Kreuzgang von S. Giovanni in Laterano. Eine Kopie dieser Inschrift ist an der barocken Fassade der Kirche angebracht.

Der daktylische Hexameter, kurz Hexameter genannt, ist bereits in der Antike das wichtigste Versmass. Er besteht aus sechs Einheiten (Füssen) und hat folgendes Schema der Verteilung der kurzen ( ˘ ) und langen ( – ) Silben:

– ˘ ˘ – ˘ ˘ – ˘ ˘ – ˘ ˘ – ˘ ˘ – ˘

Zwei aufeinander folgende kurze Silben können durch eine lange ersetzt werden, allerdings fast nie im fünften Fuss. Die letzte Silbe im Hexameter kann auch lang sein. Im Fluss des Hexameters gibt es Einschnitte, die an Wortgrenzen entstehen. Am häufigsten findet man einen solchen Einschnitt, auch Zäsur genannt ( || ), nach der langen Silbe im dritten Fuss:

– ˘ ˘ – ˘ ˘ – || ˘ ˘ – ˘ ˘ – ˘ ˘ – ˘

Eine Zäsur wird beim Vorlesen als Pause empfunden. Im Mittelalter kann diese Pause ästhetisch noch betont werden, indem man die letzte Silbe vor der Zäsur sich auf die Schlusssilbe im Hexameter reimen lässt. Diese beliebte Spielart des Hexameters nennt man leoninischen Hexameter, kurz Leoniner. Daneben gab es im lateinischen Mittelalter auch andere Sonderformen des Hexameters.


Eine andere wichtige Versform war der dem Hexameter verwandte daktylische Pentameter mit dem Grundschema:

– ˘ ˘ – ˘ ˘ – || – ˘ ˘ – ˘ ˘ –

Zwei aufeinander folgende kurze Silben können nur in der ersten Vershälfte durch eine lange ersetzt werden. Die letzte Silbe im Pentameter kann auch kurz sein. Der Pentameter wird meistens mit einem vorangehenden Hexamter zu einem Distichon kombiniert.

– ˘ ˘ – ˘ ˘ – ˘ ˘ – ˘ ˘ – ˘ ˘ – ˘
– ˘ ˘ – ˘ ˘ – || – ˘ ˘ – ˘ ˘ –

Anfang eines Osterhymnus um 1000, iambische Dimeter:

Anfang des berühmten Osterhymnus des Venantius Fortunatus (zweite Hälfte des 6. Jahrhunderts) «Pange lingua», katalektische trochäische Tetrameter:

Beispiele für mittelalterliche iambische und trochäische Dichtung.

Obwohl der Hexameter das beherrschende Versmass in der lateinischen Dichtung des Mittelalters ist, finden sich auch andere aus der Antike übernommene Versmasse. Einige sind im Mittelalter sehr selten, andere erfreuen sich doch einer gewissen Beliebtheit.

Vor allem in der hymnischen Dichtung kommen die folgenden Versmasse häufig vor:

Iambischer Dimeter:

˘ – ˘ – ˘ – ˘ –
(Jede der drei ersten kurzen Silben kann auch lang sein oder - allerdings selten - durch zwei kurze Silben ersetzt werden.)


Katalektischer trochäischer Tetrameter

– ˘ – ˘ – ˘ – ˘ || – ˘ – ˘ – ˘ –

Zum Teil können nach bestimmten Regeln kurze Silben durch lange ersetzt werden und lange Silben durch zwei kurze.

Auch die lyrischen Versmasse, wie sie z.B. bei Horaz zu finden sind, kommen im Mittelalter vor.

Beispiel für mittelalterliche rhythmische Dichtung: der Anfang der berühmten «Stabat Mater» Sequenz (13. Jahrhundert?), die einer bereits vorher beliebten Strophenform den Namen gab.
Beginn des «Stabat Mater» in einer Handschrift des 14. Jahrhunderts. Cologny, Fondation Martin Bodmer, Cod. Bodmer 94, fol. 63v.
(e-codices - Virtuelle Handschriftenbibliothek der Schweiz)

Der Akzent eines lateinischen Wortes ist durch die Verteilung der kurzen bzw. langen Silben im Wort bestimmt. Dadurch ist es möglich, dass bereits in der Spätantike zumindest ansatzweise das Potential einer rhythmischen, das heisst auf Wortakzent beruhenden, Strukturierung des Verses entdeckt wird.

Im Mittelalter gelangt diese rhythmische Dichtung zur Blüte. Es bilden sich unterschiedliche Versformen, die alle auf Silbenzahl und Verteilung der Wortakzente beruhen, wobei in der Regel nur der Versschluss streng geregelt ist. Als Beispiel sei hier eine der beliebten Formen erwähnt, die man heute als Stabat-Mater-Strophe bezeichnet (´ steht für eine betonte Silbe, ~ für eine unbetone):

´~ ´~ ´~ ´~
´~ ´~ ´~ ´~
´~ ´~ ´~~

Die rhythmische Dichtung ist im Mittelalter meist stark an musikalische Vortragsweise gebunden. Darum kommt sie oft in der Liturgie zum Einsatz, aber auch in den weltlichen Gedicht- und Gesangsformen.

Cursus planus   ´~~ ´~

Cursus tardus   ´~~ ´~~

Cursus velox   ´~~~~ ´~

Beispiele für mittelalterliche rhythmisch geregelte Satzschlüsse (cursus)

Ausser in der Verskunst können im Mittelalter die auf dem Wortakzent basierenden rhythmischen Strukturen auch in der Prosa vorkommen. Anknüpfend an die in der Antike gebrauchten metrisch geregelten Satzschlüsse bilden sich im Mittelalter die sogenannten cursus, rhythmische Satzschlüsse, die als Textschmuck gelten. Die Kunst, Satzschlüsse wirkungsvoll zu verzieren, wird vor allem im mittelalterlichen Kanzleistil gepflegt.

Die wichtigsten Satzschlüsse haben folgende Bezeichnungen:

Cursus planus   ´~~ ´~

Cursus tardus   ´~~ ´~~

Cursus velox    ´~~~~ ´~

Der cursus trägt dazu bei, einen Text – besonders oft sind es Urkunden – als feierlich zu kennzeichnen.