Zwischen der lateinischen Sprache des Mittelalters und der der Spätantike (sog. Spätlatein) bestand in einigen Teilen Europas Kontinuität, in anderen ist dieser Übergang von der Antike ins Mittelalter nicht ohne Brüche im Sprachgebrauch vor sich gegangen. Etwa ab der Karolingerzeit entwickelte sich das Latein zu einem verhältnismässig einheitlichen und überregionalen europäischen Phänomen. Die Differenzierung innerhalb der Sprache wurde fortan nicht mehr in erster Linie von regionalen Besonderheiten geprägt, sondern vor allem durch unterschiedliche Anwendungsbereiche innerhalb der vielschichtigen Kultur des Hoch- und Spätmittelalters. Der überregionale Charakter hat das Überleben der lateinischen Sprache, zumindest in bestimmten Bereichen (Naturwissenschaft, Philosophie, Theologie), bis weit in die Neuzeit hinein begünstigt. Im 17. Jahrhundert wurde das Latein allmählich aus allen traditionellen Anwendungsgebieten verdrängt und konnte sich nur noch in der Sphäre der Bildung eine Zeitlang behaupten.
Geschichte und Anwendungsbereiche der lateinischen Sprache im Mittelalter
Im Übergang von der Spätantike zum Mittelalter unterscheiden sich die Regionen Europas im Gebrauch der Latinität noch voneinander. In den Gebieten, in denen das Latein die vorherrschende Umgangssprache darstellte, machten sich allmählich, zuerst in den Gebrauchstexten, dann allgemein, lautliche, morphologische und syntaktische Veränderungen bemerkbar. Das Ausmass, in welchem sich die Sprachveränderungen in einer bestimmten Region verfestigen konnten, war von vielen Faktoren abhängig. Ausschlaggebend war schliesslich, in welchem Grad sich die antiken (sowohl weltlichen als auch kirchlichen) Verwaltungsstrukturen und das antike Bildungssystem noch behaupten konnten. Verhältnismässig langsam ging diese sprachliche Entwicklung, die zur Bildung einer eigenen Volkssprache führte, in Italien und auf der Iberischen Halbinsel voran. Am raschesten verlief sie in der Galloromania, dem nachmaligen Frankreich, vor allem in der nördlichen Hälfte. Völlig anders entwickelte sich der Gebrauch der Latinität in den Randzonen der lateinisch geprägten Kultur des Römischen Reiches: auf den Britischen Inseln oder in den Gebieten der antiken Germania.
In der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts ging von der Galloromania eine bedeutende Bildungsreform aus - die sog. karolingische Bildungsreform - welche auch die lateinische Sprache massgeblich erneuert hat. In ganz Europa bildete sich auf den Grundlagen des spätantiken Lateins allmählich eine verhältnismässig einheitliche lateinische Schriftsprache heraus. Diese überregionale Standardsprache liess allerdings mancherlei sprachliche Register zu, die sich unter anderem nach den Textsorten, nach dem Bildungsstand und den Stilidealen der Verfasser unterscheiden konnten. Dennoch streifte diese vereinheitlichte Sprache nicht alle Spuren der frühmittelalterlichen Sprachentwicklung ab: Vor allem im lexikalischen Bereich musste sie die Anforderungen des gewandelten Rechtssystems und der geänderten gesellschaftlichen, administrativen und kirchlichen Strukturen weiterhin berücksichtigen. Die im Laufe das Mittelalters immer wieder auftretenden Bestrebungen, auf die antike und spätantike Latinität zurückzugreifen (so z. B. im sog. Humanismus des 12. Jahrhunderts in Frankreich), blieben ein wichtiger Faktor der Sprachentwicklung.
Das spätmittelalterliche Latein zeichnete sich durch eine grosse Vielfalt an Sprachbereichen und entsprechenden sprachlichen Registern aus. Dies war nicht zuletzt eine Folge der Systematisierung und Diversifizierung des Wissens. Auch die Volkssprachen übten in bestimmten der Alltagskultur nahen Bereichen einen immer grösseren Einfluss auf das Latein aus. Gleichzeitig blieb aber auch die Rückbesinnung auf die Antike ein immer wiederkehrender Faktor der Sprachgestaltung (z. B. bei den Paduaner Prähumanisten kurz vor 1300). Eine weitere solche Rückbesinnung auf die klassische Latinität löste im 15. Jahrhundert den Übergang zum sog. Humanistenlatein aus, wobei der mittelalterlich geprägte Sprachgebrauch erst nach mehreren Generationen von Humanisten ganz abgelegt wurde. Die neuere Geschichte des Lateins kann als ein zuerst allmählicher, dann rascher und radikaler Rückzug aus allen traditionellen Anwendungsbereichen beschrieben werden. Allerdings ist selbst die Forschung über die Geschichte (vor allem die Wissenschaftsgeschichte) des 17. und 18. Jahrhunderts noch auf zahlreiche lateinische Quellen angewiesen.
Die lateinische Sprache des Mittelalters ist stark durch bestimmte, für das Mittelalter wichtige pragmatische Bereiche geprägt. Bereits in der Spätantike gewinnt die Sprache der Christen (sog. Christenlatein) immer mehr an Bedeutung. Einerseits ist diese Sprache der frühen christlichen Gemeinden charakterisiert durch lexikalische und syntaktische Einflüsse, die aus dem Griechischen, dem Hebräischen und dem sog. Vulgärlatein kommen. Das Griechische war bis zum ausgehenden 2. Jahrhundert die Sprache der Liturgie und der Bibel (Neues Testament und die sog. LXX). Das Hebräische wirkte indirekt durch die lateinischen Bibelübersetzungen (sog. Vetus Latina und Vulgata) auf die Sprache der Christen ein. Das Vulgärlatein war in grossen Teilen des Römischen Reiches die Alltagssprache. Andererseits schrieben die grossen christlichen Autoren der Spätantike (Hieronymus, Augustinus) in einer zwar christlich geprägten, jedoch an das klassische Latein angelehnten, gepflegten Sprache. Die aus diesen unterschiedlichen Einflüssen entstandene charakteristische Christensprache bleibt im ganzen Mittelalter im kirchlichen und religiösen Bereich lebendig.
Innerhalb des mittelalterlichen Lateins bilden sich früh Bereiche heraus, die nicht nur eigene Textformen, sondern zum Teil eigene lexikalische, stilistische und rhetorische Konventionen entwickelten. In einigen Sprachbereichen (z.B. in der Sprache der Liturgie) haben autoritative Texte eine starke Modellfunktion ausgeübt und dadurch eine Weiterentwicklung der Sprache gehemmt.
Andere Lebensbereiche, wie z.B. das Rechtsleben (Recht und Verwaltung), die Philosophie, die Naturwissenschaften, darunter insbesondere die Medizin, kennen zwar auch autoritative Texte, doch die Veränderungen im Alltag und die sich allmählich herausbildende Universitätskultur förderten hier eine natürliche Sprachentwicklung.
Eine Sonderstellung im Mittelalter hat die Sprache der Theologie bzw. des religiösen Diskurses. Dieser prägt im Mittelalter auch andere benachbarte Bereiche: die Philosophie, die politische Theorie und sogar die Naturwissenschaften. Die Sprache der zentralen Faktoren Bibel, Liturgie, Patristik und der aktuellen theologischen Auseinandersetzungen beeinflusst dabei auch die Sprache anderer Bereiche. In diesem wichtigen Bereich des mittelalterlichen Lateins kommen bald konservative, bald innovative Sprachaspekte zum Zug. Innerhalb dieses breiten Spektrums bildete sich im reiferen Hochmittelalter die Latinität der sog. Scholastik heraus, die durch ihre Präzision den Bedürfnissen der Diskussionskultur an den Domschulen und Universitäten entgegenkam. Der sich allmählich ausbreitende Formalismus dieser Sprache und Denkart ist weitgehend verantwortlich für die Ablehnung, die das mittelalterliche Latein bei den Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts hervorgerufen hat.
Von den regionalen Ausprägungen des Lateins kann man am ehesten noch im Frühmittelalter reden. Bevor die regionale Differenzierung im sog. Vulgärlatein zur allmählichen Bildung der romanischen Sprachen führte, machte sich in einigen Gebieten Europas im Frühmittelalter, wenn auch viel weniger ausgeprägt, eine Differenzierung der lateinischen Schriftsprache bemerkbar: Es hat sich z.B. eingebürgert, die Sprache der merowingischen Urkunden als Merowingerlatein zu bezeichnen und die lateinische Sprache im keltischen Gebiet als Hibernolatein. Auch in diesen Fällen hat jedoch die neuere Forschung viele vermeintlich regionale Besonderheiten als allgemein vorkommende Erscheinungen erkannt. Die Unterschiede im Latein der Karolingerzeit und des Hoch- bzw. Spätmittelalters sind nicht primär regional bedingt. Daher lassen sich Texte aus dieser Zeit aufgrund sprachlicher Phänomene selten mit Sicherheit einer bestimmten Region zuordnen.