Textsorten und ihre Funktionen im Mittelalter

Naturgemäss befasst sich die Textlinguistik des lateinischen Mittelalters, im Gegensatz zur Textlinguistik der modernen Sprachen, ausschliesslich mit schriftlich überlieferten Texten.

Eine schlüssige und rigide Kategorisierung bzw. Klassifizierung der lateinischen Texte aus dem Mittelalter kennt die mittellateinische Literaturwissenschaft nicht. Trotzdem werden einige wichtige Begriffe verwendet, wie z.B. Gebrauchstext, literarischer Text, Prosa, Dichtung, Hymnus, Chronik, Kommentar, Titulus usw.

Die Kenntnis der Textsorten und -funktionen sowie der Anwendungsbereiche der lateinischen Sprache im Mittelalter ist Voraussetzung, um die Interpretation und Auswertung der mittelalterlichen Quellen anzugehen.

Beispiel für magische Heilpraktiken aus einer mittelalterlichen Münchner Handschrift (Clm 536, fol. 87r-87v).

Die Philologie der lateinischen Sprache im Mittelalter versteht sich als sprach- und literaturwissenschaftliche Disziplin. Gleichzeitig ist sie auch eine grundlegende Hilfswissenschaft für zahlreiche historisch orientierte Forschungsgebiete, die sich mit lateinischen Quellen befassen.

Deshalb befasst sich die Disziplin auch ausführlich mit sogenannten Gebrauchstexten. Diese wichtige, im Alltag verankerte Textgruppe umfasst viele Textmuster, die auch die Textlinguistik der modernen Sprachen kennt, wie Verwaltungsschriften, Verträge und Rezepte. Sie beinhaltet auch andere, heute vielfach nur noch eine marginale Rolle spielende Textgruppen wie z.B. liturgische Texte oder Zauberformeln.

Die grosse Gruppe der alltagsbezogenen Textquellen umfasst Texte mit unterschiedlichsten Eigenschaften: So können z.B. aus dem liturgischen Bereich stammende Texte klare sachliche Anweisungen oder auch literarisch hochstehende Dichtung sein. Einige Urkunden sind in einer dem Alltag entsprungenen, wenig gepflegten lateinischen Sprache verfasst, andere wiederum als stilistisch und rhetorisch anspruchsvolle Texte mit repräsentativem Anspruch.

Der Lexikographie kommt im Hochmittelalter eine bedeutende Rolle in der Wissensvermittlung zu, hier als Beispiel der Artikel COSMOS aus den Derivationes Magnae (ed. Cecchini 2004) des Hugutio von Pisa (um 1200).

Eine wichtige und grosse lateinische Textgruppe aus dem Mittelalter bilden Texte, die der Wissensvermittlung dienen. Sie entstammen in der Regel der monastischen Kultur, den Kathedralschulen oder dem universitären Bereich.

Ausserordentlich zahlreich sind Texte, die man übergreifend als theologisch bezeichnen kann. Andere Texte, deren Funktion die Wissensvermittlung ist, sind philosophische, logische, grammatische, juristische oder naturwissenschaftliche Schriften. Eine eigene Tradition bilden die mittelalterlichen Enzyklopädien und Wörterbücher.

Anders als heute ist im Mittelalter die Wissensvermittlung nicht nur in Form von Prosa üblich. Auch Texte in Versform sind sehr beliebt. Eine weitere verbreitete Textform bilden die bereits in der Antike gepflegten Dialoge. Es gibt zudem zahlreiche eigens für den Unterricht verfasste Werke.

Beispiel für die literarisch anspruchsvolle Gestaltung des Vorworts zu einem «Sachbuch», den Derivationes (ed. Bertini/Ussani, 1996) des Osbern von Gloucester (12. Jahrhundert).

In der Literaturwissenschaft der modernen Sprachen wird den Gebrauchstexten oft die Gruppe der literarischen Texte entgegengesetzt. Auch das lateinische Mittelalter kennt Texte, die sich zumindest teilweise den modernen Gattungsbezeichnungen zuordnen lassen (z.B. lyrische Dichtung, Hörspiel, Heldenepos).

Für das Mittelalter ist jedoch charakteristisch, dass man viele Eigenschaften eines Textes, die man heute als literarisch empfindet (Narrativität, gepflegte Sprache, anspruchsvolle Rhetorik), in beinahe allen Textsorten finden kann. Darum ist der Begriff der Literatur im Mittelalter viel weniger als in der modernen Literaturwissenschaft an bestimmte Inhalte gebunden. Es gibt zahlreiche literarisch hochstehende Texte, die sich beispielsweise mit der Bibelexegese befassen, historische Ereignisse wiedergeben und Heiligenlegenden erzählen. Sogar Urkunden oder Enzyklopädien können literarische Qualitäten besitzen.

Hingegen spielen formale Kriterien eine untergeordnete Rolle, wenn es darum geht, die literarischen Qualitäten eines mittelalterlichen Textes zu umschreiben. So ist beispielsweise die Versform kein zuverlässiges Merkmal für einen literarischen Anspruch des Verfassers.

«Alexandreis» des Walther von Châtillon in einer Handschrift des 14. Jahrhunderts (Ausschnitt). Zentralbibliothek Zürich, Ms. C 100, fol. 4v. (als Dauerleihgabe in der Stiftsbibliothek St. Gallen, vgl. auch e-codices - Virtuelle Handschriftenbibliothek der Schweiz)

Beispiele für Dichtung im Mittelalter:
Walter von Châtillon, Alexandreis, Anfang des ersten Buches:



Eberhard von Béthune, Graecismus, Kapitel IV., De pedibus metrorum:
Oben: Heldenepos, Walter von Châtillon (um 1135 bis um 1179), Alexandreis (ed. Colker, 1978). Unten: Lehrgedicht über die Grammatik, Eberhard von Béthune (gestorben um 1212), Graecismus (ed. Wrobel, 1887).

Der Begriff «Dichtung» deckt sich bei mittelalterlichen Texten selten mit dem Dichtungsbegriff der modernen Literaturwissenschaften. In der mittellateinischen Literaturwissenschaft bezeichnet man damit Texte, die unabhängig von einem literarischen Anspruch bestimmte formale Kriterien erfüllen. Ausschlaggebend ist die Versform mit ihren wiederkehrenden metrischen bzw. rhythmischen Strukturen. Inhaltlich oder stilistisch sind diese Texte folglich sehr heterogen. Deshalb wird, wenn vom Mittelalter die Rede ist, dem Begriff der «Dichtung» oft die Bezeichnung «Texte in Versform» vorgezogen. Somit kann die Dichtung im Mittelalter z.B. sowohl literarische Meisterwerke als auch didaktische Aufzählungen der grammatikalischen Regeln und Ausnahmen umfassen. Wichtige mittelalterliche Quellen können auch in Versform verfasst sein, so z.B. Inschriften oder sogenannte Tituli.