Der Fokus dieses schriftgeschichtlichen Überblicks liegt auf der Entwicklung der lateinischen Schrift in Island und Norwegen. In dieser Region sind stiltypologische Eigenheiten und spezielle Schriftzeichen entstanden, die eine eigenständige Betrachtung gegenüber dem kontinentalen lateinischen Schriftgebrauch sinnvoll erscheinen lassen.
Der erhaltene Bestand an lateinischsprachigen Codices aus Island und Norwegen ist fast ausnahmslos fragmentarisch. Kulturgeschichtlich wesentlich bedeutsamer sind die zahlreichen altnordischen Codices und Urkunden. Norwegen bietet aufgrund der stärker ausgebauten kirchlichen und herrschaftlichen Administration einen reichen Fundus an Urkunden (allein 1100 vor 1350, insgesamt 20000 bis zum Jahr 1500). Aus Island ist hingegen eine Fülle an Codices überliefert, allein bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts 700 bis 800 Handschriften.
Innerhalb Europas einzigartig ist der Schriftgebrauch in Island in der Neuzeit. Das Schreiben von Hand bleibt nicht auf den administrativen, kaufmännischen und privaten Bereich eingegrenzt, sondern setzt sich als mittelalterliche Art der Überlieferung für viele literarische Textgattungen fort. So entsteht eine mehrere tausend Handschriften umfassende Kontinuität des Schriftgebrauchs, aus der sich stiltypologische Sonderentwicklungen ergeben (z. B. einerseits der konservative Gebrauch von Abkürzungszeichen, andererseits die Anlehnung an die Typografie des Buchdrucks).