Urbare verzeichnen die Besitzrechte und die der Herrschaft zu leistenden Abgaben innerhalb einer Grundherrschaft. Urbare sind normative Quellen, deren Bezeichnung und formale Gestaltung variiert und denen unterschiedliche Funktionen zukommen. Sie werden quellentypologisch den Wirtschafts- und Verwaltungsquellen zugeordnet.
Urbare sind eine wichtige Quelle für die Organisation mittelalterlicher Grundherrschaften. Neben der Wirtschafts-, Siedlungs- und Bevölkerungsgeschichte interessiert sich auch die Sprachwissenschaft für urbariales Schriftgut. Die Auswertung und Interpretation stellt jedoch hohe methodische Anforderungen.
Die zeitgenössische Terminologie ist uneinheitlich. Als Quellenbegriffe finden u.a. Verwendung:
Frühmittelalter
Spätmittelalter und frühe Neuzeit
Polyptychon, Descriptio, Inventar
Hubenliste, Heberegister, Zinsrödel, Urbar, Beraine, Gült- und Lagerbuch, Zinsregister
So unterschiedlich wie die Bezeichnung in den Quellen, so variabel ist auch die formale Gestaltung. Es handelt sich aber immer um Aufzeichnungen bzw. Übersichten zu Güterbesitz und zur Herrschaftsorganisation. Die Abgrenzung zu anderen Wirtschaftsquellen, z.B. Rechnungsbüchern, ist meist klar. Diese weisen eine regelmässige, d.h. serielle Verzeichnung von Einnahmen und Ausgaben auf, während Urbare die zu leistenden Abgaben und Dienste beinhalten. Formal weisen Urbare aber oft Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten mit anderen Quellentypen auf (z.B. Urkunden und Weistümern). Editionen verwischen oder verdecken dies oft. Neuzeitliche Archivbezeichnungen und Editionsbetitelungen sind problematisch, da sie sich häufig an rechtsformale oder verwaltungspraktische Kriterien des 19. und 20. Jahrhunderts anlehnen. Die Definitionen gehen von Annahmen über den Gebrauch und die Funktion der Urbare aus, die eigentlich erst zu untersuchen sind.
Die Anfänge der Urbarüberlieferung liegen - mit Ausnahme der frühmittelalterlichen Polyptichen - im 12. Jahrhundert. Diese hochmittelalterlichen urbarialen Aufzeichnungen findet man nicht selten als nachträgliche Einträge in liturgischen Handschriften. Vor allem seit dem 14. Jahrhundert wird die Überlieferung immer breiter. Zudem stammen die Urbare immer häufiger nicht nur von geistlichen, sondern auch von weltlichen Herrschaften. Anfänglich noch in Latein abgefasst, wird seit Mitte des 13. Jahrhunderts zunehmend die deutsche Sprache für urbariale Aufzeichnungen verwendet. Die formalen Ursprünge von Urbaren sind unklar, eine Kontinuität zu den frühmittelalterlichen Verzeichnissen fehlt. Sie sind in verschiedenen Ausstattungen, in Buchform, als Rödel oder in Heftform, selten auch als Urkunden, überliefert. Seit dem Spätmittelalter werden zur Rechtssicherung mehrere Exemplare an unterschiedlichen Stellen aufbewahrt. Die vermehrte Herstellung von Urbaren kann nicht allein mit der Auflösung der so genannten Villikationsverfassung und der Etablierung des Zinsgütersystems erklärt werden. Die Erweiterung und Vermehrung der Urbarüberlieferung ist, insbesondere im 15. Jahrhundert, Teil einer sich allgemein verdichtenden Schriftlichkeit im Herrschaftskontext.
Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden Urbare als Quelle für das mittelalterliche Wirtschaftsleben genutzt. Auf dieses Interesse sind auch die zahlreichen Editionen zurückzuführen. Urbare sind in verschiedenen regionalen Reihen, aber auch, zumeist auszugsweise, in bibliographisch schwer fassbaren heimatgeschichtlichen Publikationen veröffentlicht. Die Editionen decken aber nur einen kleinen Teil der Gesamtüberlieferung ab. Heute besteht in der Urbarforschung weitgehender Konsens über die herrschaftliche Bindung und praktische Bedeutung von Urbaren als Teil der grundherrlichen Wirtschaftsführung, Rechtssicherung und Verwaltungsorganisation. Die Interpretation fällt jedoch unterschiedlich aus: Einerseits wird davon ausgegangen, es handle sich um Dokumente der Güteradministration, also um systematische Auflistungen von Gütern und Rechten. Dies kann zur Annahme führen, Urbare böten direkte Aufschlüsse über wirtschaftlich-soziale Fakten (z.B. Bevölkerungs- und Siedlungsgeschichte). Andererseits werden Urbare als rein normative, rechtssichernde oder zu Repräsentationszwecken erstellte Dokumente ohne Bezug zur Verwaltung betrachtet. Die neuere Forschung bemängelt, dass die Möglichkeiten und Grenzen der Interpretation von urbarialem Schriftgut bisher zu wenig diskutiert wurden und beschäftigt sich vor allem mit der bisher vernachlässigten Frage, welche Rolle Urbare in der Beziehung zwischen Herren und Bauern spielten. Sie fragt also nach der konkreten Verwendung solcher Dokumente in der Herrschaftsvermittlung (Roger Sablonier).
In ihrer Anlage unterschiedlich, nennen Urbare meist nach Ort, Höfen und Inhabern sortiert die Abgaben, Rechte und Pflichten, die mit der Nutzung der herrschaftlichen Besitzungen verbunden sind. Neben Schenkungs- und Kaufurkunden bilden Befragungen vor Ort die Grundlage der urbarialen Aufzeichnungen, deren Charakter folglich gewisse Ähnlichkeiten zu Urkunden und Weistümern aufweist, die auch integraler Bestandteil früher Urbare sein können. Urbare verzeichnen einen Besitzstand oder -anspruch zu einem bestimmten Zeitpunkt. Teilweise wird versucht, die Urbare mit Nachträgen aktuell zu halten. Oft werden aber bei der Erneuerung die alten Strukturen beibehalten, auch wenn sich die Verhältnisse verändert haben. Eine kontinuierliche schriftliche Verwaltung fehlt. Die Frage, warum mittelalterliche Urbare teilweise bis in die frühe Neuzeit unverändert abgeschrieben wurden, ist noch wenig untersucht.
Urbare sind normative Quellen und enthalten den Sollbestand der Abgaben an die Herrschaft. Was real abgegeben wird, musste immer wieder neu ausgehandelt werden. Der Vergleich mit Rechnungen, sofern vorhanden, ermöglicht, die Soll- und Realabgaben gegenüberzustellen. Häufig ist eine Diskrepanz zwischen Norm und Praxis feststellbar. Urbare verzeichnen die Abgaben an die Herren als Ansprüche. Beispielhaft lässt sich dies bei den Zinsbüchern der Prämonstratenserabtei Rüti zeigen: Dort sind für die Ferracher Hofleute als Sollabgaben hauptsächlich Getreide aufgeführt. In den Rechnungen werden als Realabgaben zunehmend Vieh verzeichnet. Das Getreide übernimmt teilweise die Funktion von Geld: Die Wertrelationen werden auf der Basis von Getreidemengen errechnet. Zudem umfassen in den Urbaren die Einträge über die Höfe meist nicht die bäuerlichen Betriebe, sondern Organisations- bzw. Abgabeneinheiten. Will man die Güterstrukturen analysieren, muss man zwischen der Ebene der herrschaftlichen Verwaltung und der bäuerlichen Bewirtschaftung unterscheiden. Nur wenn die Möglichkeit besteht, die Angaben der Urbarien nach den einzelnen Inhabern aufzuschlüsseln, werden die bäuerlichen Betriebe fassbar. Die Abgaben werden in Naturalien und/oder Geldeinheiten verzeichnet.
Die Vorrede des Urbars von 1332 aus dem Klarissenkloster Paradies (Diessenhofen) berichtet ausführlich über das Verfahren: Der Ersteller beruft sich auf die Angemessenheit, die Befragung oder Kundschaft und auf seine Rechenerfahrung und verschafft damit dem Urbar Glaubwürdigkeit. Wichtig ist, dass die richtige Person das Schriftstück herstellt.
Aus: Thurgauisches Urkundenbuch 7, 1375 - 1390 Nachtrag 1213 - 1390, bearbeitet von Ernst Leisi, Frauenfeld 1961, Nachtrag 80, S. 863.
Die Verwendung von Urbaren ist an spezifische örtliche und personale Kontexte gebunden. Ihre Glaubwürdigkeit erhalten Urbare durch das richtige Verfahren, wobei dem Schreiber, dem Ort, der Zeit und der Form eine wichtige Bedeutung zukommt. Die Richtigkeit des Verfahrens legitimiert die Herrschaft nicht nur gegenüber den Bauern, sondern auch im zwischenherrschaftlichen Bereich. Sie ist im Konfliktfall (Güterbesitz, -kauf, -verkauf, -tausch, Erbe) ein wichtiges Element der Herrschaftsbewahrung, denn sie belegt die Akzeptanz der Herrschaft durch die Bauern. Das konsensbildende Verfahren bedeutet allerdings nicht, dass die Abhängigen ihre Interessen gleichberechtigt einbringen können. Urbare dienen nicht als Vollzugsgrundlage, sondern zur Legitimation der Herrschaft. Dies zeigt sich auch in der fehlenden Aktualisierung der Abschriften, d.h. Mutationen von Personen und Gütern werden nicht angepasst. Durch die kontinuierliche schriftliche Dokumentation wird Tradition gebildet und werden Ansprüche gewahrt. Nicht die wirtschaftlichen, sondern die herrschaftlichen Verhältnisse werden verschriftlicht und normiert (Roger Sablonier).
Seit dem 15. Jahrhundert ist ein steigender Bedarf an Schriftgut für die innere Verwaltung feststellbar, der kaum mehr direkt mit Herrschaftsvermittlung zu tun hat. Urbaren kommt, aufgrund häufiger Herrschaftswechsel und Herrschaftsverdichtung, vermehrt eine reine verwaltungsinterne Funktion zur normativen Fixierung von neuen Ordnungsstrukturen zu. Dies führt zur Entstehung spezialisierten Schriftguts und zur Herausbildung neuer Formen (z.B. Rechnungsbuch), deren Ziel die Kontrolle der Verwaltung ist. Die urbarialen Aufzeichnungen in ihrer traditionellen Form behalten jedoch die Funktion als Garanten der althergebrachten Gewohnheiten und dienen der Legitimation der herrschaftlichen Ansprüche. Inhalt, Wortlaut und Layout der alten Urbare werden beibehalten. Den aufkommenden dynamischen Grundstückhandel versucht man durch historische Rekonstruktionen zu verdecken, indem beim Verkauf von zinspflichtigem Land der Zins auf ein anderes Gut übertragen wird.
Neben ihrer materiell-inhaltlichen Bedeutung kommt den Urbaren auch ein symbolischer Wert zu. Als Objekte symbolisieren sie in inszenierten Handlungen das herrschaftliche Vorgehen, Hierarchien und Abhängigkeiten. Urbare als Objekte können als Beweis für die Anspruchsberechtigung dienen. Sie demonstrieren den sozialen Status des Besitzers, der auch den Zugang zu diesen Objekten regelt. Einzelne Abschriften weisen eine feierliche Ausstattung auf. Bei diesen Schriftstücken steht nicht der Inhalt im Vordergrund, sie sind vielmehr auch ein Zeugnis für das konsensbildende Verfahren. Als Teil der inszenierten Handlungen haben sie eine legitimierende Wirkung. Die urbarialen Einträge können auch Rekognitionsabgaben darstellen, d.h. die Bauern anerkennen mit ihrer Abgabe die Herrschaft und ihre spezifischen Rechte (z.B. Unterscheidung zwischen Zehnt-, Zins, Herbst- und Fasnachtshühnern). Die aufgeschriebenen Abgabekategorien und -grössen definieren eine Beziehung und inventarisieren nicht die tatsächlichen wirtschaftlichen Leistungen. Es handelt sich um symbolische Abgaben, welche die rechtlichen und sozialen Beziehungen darstellen. (Roger Sablonier)
Die Entwicklungen im Urbarwesen sind nur mit dem Wandel der Herrschaftsorganisation und -praxis genauer zu fassen. Der Anlass für die Anfertigung eines Urbars kann sehr unterschiedlich sein, z.B. bei Aufteilung der Güter zwischen Abt und Konvent oder konkurrierender Herrschaft. Nicht nur Aufnahme- und Anlagekriterien müssen für jedes Urbar neu untersucht, sondern auch die Zusammenhänge zum weiteren Schriftgut geklärt, die Verfügbarkeit berücksichtigt und die Interessen der jeweiligen Besitzer einbezogen werden. Je nach Kontext können Urbaren zu unterschiedlichen Zeiten verschiedene Funktionen zukommen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass urbariale Schriftlichkeit u.a. dazu dient, «Normen festzuschreiben, soziale Beziehungen darzustellen und zu bewahren, Verfahren zu sichern und damit Glaubwürdigkeit herzustellen, zu ordnen und zu organisieren, Traditionen zu (re)konstruieren und mit Geschichte Legitimationsargumente zu liefern» (Roger Sablonier).
Ad fontes — Anmeldung
AAI steht für eine gemeinsame Authentifizierungs- und Autorisierungs-Infrastruktur der Schweizer Hochschulen.
Voraussetzung für die Nutzung von AAI ist eine Ad fontes-Registrierung. Nach dem ersten AAI-Login lässt sich das AAI- mit dem Ad fontes-Benutzerkonto verknüpfen.
AAI-Login
Du hast Dich zum ersten Mal via AAI bei Ad fontes angemeldet. Wenn Du bereits ein Ad fontes-Konto hast, kannst Du dieses mit Deinem AAI-Login verbinden. Andernfalls kannst du jetzt ein neues Ad fontes Konto erstellen.