Das lateinische Mittelalter bringt auch eigene Texttheorien hervor. Es gibt zahlreiche mittelalterliche Schriften, die sich mit Rhetorik und Stillehre, mit Poetik und Prosakunst befassen. Es sind Werke, die vorrangig als Anleitung zur Textproduktion verfasst sind, zugleich aber auch Grundlage für die mittelalterliche Textanalyse bilden, so wie sie z. B. in vielen im Mittelalter verbreiteten Kommentaren praktiziert wird.
Rhetorik und Stillehre im lateinischen Mittelalter
Die schemata der mittelalterlichen Rhetorik des Beda Venerabilis, De schematibus et tropis, Kapitel I., De Schematibus:
Die figurae der mittelalterlichen Rhetorik des Beda Venerabilis, De schematibus et tropis, Kapitel II., De Tropis:
Die Rhetorik als Texttheorie prägt im Mittelalter weitgehend sowohl die Textproduktion als auch die Textrezeption. Die in der Antike am Modell einer Gerichtsrede geformten rhetorischen Grundbegriffe werden im Mittelalter unverändert in unterschiedlichsten Texten angewendet.
Diese erstarrte Rhetorik ist ein wesentliches Element des mittelalterlichen Bildungskanons, der im sogenannten Trivium verankert ist. Sie unterscheidet fünf Schritte der Textproduktion:
1.) inventio: Auffindung des zu behandelnden Stoffes
2.) dispositio: die Gliederung des Textes
3.) elocutio: die sprachliche Gestaltung des Textes
4.) memoria: das Auswendiglernen des Textes
5.) pronuntiatio (actio): das Vortragen des Textes.
Einen anderen wichtigen Aspekt der Rhetorik im Mittelalter bildet die ornatus-Theorie, eine Anleitung zur kunstvollen Ausschmückung eines Textes. Die Grundlagen dieser mittelalterlichen Textästhetik sind die figurae (z.B. Vergleich, Allegorie, Personifikation) und die tropi (z.B. Metonymie, Metapher, Ironie).
Die mittelalterliche Stillehre hat, wie auch die Rhetorik, ihre Wurzeln in der klassischen Antike und beruht entweder auf den drei genera dicendi oder auf einer Zweiteilung des ornatus.
Bei den genera dicendi unterscheidet man im Mittelalter in der Regel zwischen folgenden Stilstufen:
1.) genus humile: der einfache Stil
2.) genus medium (mediocre): der mit rhetorischen Mitteln massvoll verzierte Stil
3.) genus sublime (grave): der rhetorisch reich ausgeschmückte Stil.
In der mittelalterlichen Stillehre werden diese Stilstufen jedoch nicht nur durch den Einsatz der rhetorischen Ornamente bestimmt, sondern auch vom sozialen Stand der Protagonisten der Texte. Oft wird dies nach dem antiken Muster an Vergils Hauptwerken «Bucolica», «Georgica»» und «Aeneis» exemplifiziert, die von Hirten bzw. Bauern und Kriegern handeln. Deshalb wird im Mittelalter diese Klassifizierung auch als «Rota Vergilii» bezeichnet.
Parallel dazu findet man aber auch eine schlichte Zweiteilung der Stilstufen in ornatus facilis (einfacher Stil) und ornatus difficilis (aufwendiger Stil).
Matthaeus von Vendôme, Ars Versificatoria, Anfang des ersten Buches:
Alberich von Montecassino, Rationes Dictandi, Kapitel II., Quid sit dictamen:
Die wichtigsten rhetorischen Schriften im Mittelalter sind vor allem die drei aus der Antike überlieferten Werke «Rhetorica ad Herennium» (für ein Werk Ciceros gehalten), Ciceros «De inventione» und Quintilians sehr umfangreiche «Institutio oratoria». Auch die frühmittelalterliche Abhandlung «De schematibus et tropis» des Beda Venerabilis (672/73-735) entfaltet eine breite Wirkung.
Im Hochmittelalter wird die antike Rhetorik in zwei neue Traditionsstränge gespalten: Sie wird einerseits in den Artes Poeticae (Dichtungslehren des Mittelalters), andererseits in den Artes Dictaminis (mittelalterliche Briefsteller) übernommen und weitergeführt. Unter den wichtigsten Werken der ersten Gruppe sind die «Ars versificatoria» des Matthaeus von Vendôme (Vindocinensis, 12. Jahrhundert), die «Poetria» des Johannes von Garlandia (um 1195 bis um 1272), die «Poetria nova» des Galfred von Vinosalvo (Geoffroi de Vinsaufe, gestorben um 1210) zu erwähnen. Zur zweiten Gruppe gehören z.B. das «Rationes Dictandi» des Alberich von Montecassino (11. Jahrhundert) oder die «Summa dictaminis» des Lorenzo von Aquileia (13. Jahrhundert).