Archive sind nicht nur für Fachleute da, sondern sie sind auch ein besonders wertvoller historischer Lernort für Lernende unterschiedlicher Schularten und Altersstufen. Doch gelten für sie zum Teil andere Spielregeln. Diese sollten vor allem die Lehrkräfte und auch die Archivfachleute kennen, um gemeinsam den Lernenden die Arbeit im Archiv zu ermöglichen. Dafür werden in der Archivpädagogik Wege aufgezeigt.
Zugleich soll auch die in den Schulen häufige Schwellenangst vor dem Archiv abgebaut werden, als sei das Archivgut für Nicht-ArchivarInnen wegen seiner möglichen Schrift- und Sprachbarrieren nahezu unzugänglich.
Besondere Aufmerksamkeit wird zudem in der Archivpädagogik dem didaktisch-methodischen Gewinn gewidmet, der für das Fach Geschichte von der Zusammenarbeit von Schule und Archiv ausgeht.
Schliesslich bietet die Anbindung an Ad fontes die motivierenden Möglichkeiten des darin vorgesehenen Zusammenspiels von virtueller und realer Archivarbeit.
Pédagogie des archives - pour quoi faire, pourquoi, pour qui?
Das Archiv als historischer Lernort ermöglicht die Begegnung mit authentischen Zeugnissen der Vergangenheit. Die davon ausgehende Motivation hilft, Einstiegsschwierigkeiten rasch zu überwinden. Vor allem aber ist diese Begegnung notwendig, um den Lernenden an der Ganzheitlichkeit des Originaldokuments die Komplexität der Überlieferung bewusst zu machen. Diese historische Dimension geht im Alltag des Klassenzimmers im Umgang mit den in normalisierter Form vorliegenden Quellenausschnitten verloren.
Verloren gehen damit auch die epochenspezifischen Besonderheiten einer Quelle und damit die Einsicht in Kontinuität und Wandel. Sie kann nur am originalen Archivgut gewonnen werden.
Die Lernenden arbeiten in Archiven ihrer heimischen Region - also an Quellen zur Geschichte vor Ort. Damit erkennen und verstehen sie ihre eigene Lebens- und Erfahrungswelt als eine historisch gewachsene. Dies fördert die Identifikation mit diesem Raum und später die Bereitschaft zum politischen Engagement vor Ort.
Schliesslich erfahren die Lernenden im Archiv in einer Art Werkstatterlebnis, wie aus vielen Mosaiksteinen ein Bild, eine fundierte Aussage zu einer historischen Frage, entsteht.
Die Angst vor Schrift- und Sprachbarrieren, die leider allzu häufig Lehrkräfte vor einer Zusammenarbeit von Schule und Archiv zurückschrecken lässt, ist durch eine sinnvolle Auswahl der Archivalien aufzufangen, die im Vorfeld zwischen Lehrenden und Archivfachleuten abgeklärt wird. Um die Lernenden, die dem Archiv mit Neugier gegenüberstehen, nicht zu demotivieren, dürfen die Barrieren allerdings nicht so weit abgebaut werden, dass nur noch Texte in Maschinenschrift und Druckerzeugnisse ab dem späten 19. Jahrhundert übrig bleiben.
Als Auswahlkriterien kommen in Frage:
- Bildelemente innerhalb von Archivalien oder reine Bildquellen:
Integrierte Bildelemente sind beispielsweise Siegel, Initialen, Wappen, Skizzen in Textquellen. Zu den reinen Bildquellen zählen neben alten Darstellungen und Fotos vor allem Pläne und historische Karten. - Die Lernenden ansprechende Inhalte:
Es geht vor allem um Archivgut, das sich mit dem Schicksal einer Person beschäftigt oder als deren unmittelbare Hinterlassenschaft gilt. - Spiegelungen eines historischen Prozesses:
Dabei handelt es sich vor allem um Archivalien mit Spuren laufender Bearbeitung und Umarbeitung. - Sich wiederholende Formulierungen:
Sie finden sich vorrangig in Dokumenten, deren Inhalte aufgelistet sind. - Drucktexte:
Sie sind für motivierte Lernende sogar bis zurück ins 18. Jahrhundert lesbar.
Auf zwei Umgangsebenen kann das Archiv altersspezifisch eingesetzt werden:
- 1. Zur Vermittlung von fachspezifischen Erkenntnissen:Es ist die Ebene, die im Allgemeinen mit Archivarbeit verbunden wird - Auffinden und Auswerten von Archivalien. Dabei geht es um die Kompetenzen des Recherchierens, Lesens, Transkribierens, eventuell des Übersetzens oder Übertragens in den heutigen Sprachgebrauch, gefolgt von der Interpretation der Quelle. Es können auf dieser Ebene auch Bildquellen wie beispielsweise historische Karten eingesetzt werden.
- 2. Zur Spiegelung von Lebenswirklichkeiten anderer Epochen: Das Archivale ist nun nicht Gegenstand von Textarbeit, sondern es wird als Zeugnis der Andersartigkeit einer für den Lernenden fremden Zeit eingesetzt. Die Schrift ist zum Beispiel ein Ausdruck dafür. Die Frage nach den Schreibgewohnheiten löst die konkretisierende und vertiefende Nachahmung aus.
In den allgemeinbildenden Schulen herrscht der Trend zu solchen handlungsorientierten Aufgaben bis zur 10. Klassen vor. Ab dieser Stufe wird die Archivarbeit stärker zur gezielten Erweiterung und Vertiefung der Unterrichtsinhalte im Fach Geschichte herangezogen; damit gewinnt zunehmend die Textarbeit an Bedeutung.
Zu den Möglichkeiten, fachspezifische Erkenntnisse im Archiv zu erwerben, gehören für Lernende:
- 1. Die Archivführung: Sie ist die älteste, nicht schulartspezifische Form. Wegen des vorgegebenen Programms geht sie zu wenig auf die individuellen Interessen der Lerngruppen ein; auch kann es zu keiner Auseinandersetzung mit einzelnen Archivalien kommen.
- 2. Integration der Archivarbeit in den Geschichtsunterricht: Die ausgesuchten Archivalien sind inhaltlich in den Unterricht integriert. Um sie zu sehen und zu bearbeiten, gehen die Lernenden für kürzere Zeit (2 - 4 Stunden) ins Archiv und arbeiten dort nach ihnen vorgegebenen Arbeitsaufträgen. Es ist ein effektives, aber stark lehrerzentriertes Vorgehen.
- 3. Projektorientiertes Arbeiten und Projekte im Vollsinn: Dafür ist möglichst weitgehende Selbständigkeit der Lernenden gefordert - die Rolle der Lehrkraft ist auf Moderation und Beratung ausgerichtet. Im Vordergrund steht die Zusammenarbeit von Lernenden und Archivfachleuten. Projektarbeit eignet sich besonders für fächerverbindendes Arbeiten; das Archiv wird dadurch mit anderen Lernorten kombiniert.
- 4. Arbeitsgemeinschaften: Bieten die Bildungspläne nur wenig Raum für Projekte, kann den Lernenden in Arbeitsgemeinschaften Vergleichbares angeboten werden.
Handgeschriebene Archivalien liest man nur selten vom Blatt; das Entziffern gleicht eher einem Puzzle-Spiel. Man geht von einzelnen lesbaren Wörtern aus, sucht dann die darin vorkommenden Buchstaben und -kombinationen in andern Wörtern. So werden Wortteile lesbar, die sich allmählich zu sinnvollen Begriffen und Sätzen zusammenfügen.
Das «ansehende Lesen» meint, dass bei hoher Schriftbarriere nicht der gesamte Text eines Archivales gelesen wird, sondern dass durch genaues Beobachten nur einzelne Wörter, häufig Orts- oder Eigennamen, entziffert werden. Sie weisen dieses Dokument als historisches Zeugnis für ein bearbeitetes Thema aus und stellen den Zusammenhang zwischen ihm und anderen Quellen her. Zugleich zeigt sich auch noch eine Kontinuität in der Schrift.
Lernende können die Höhe der Barrieren selbst festlegen, wenn sie für ein Grossprojekt in Gesprächen mit den Archivfachleuten das Archivgut für ihre Arbeit auswählen.
Ein die Lernenden ansprechendes Endprodukt ihrer Archivarbeit (zum Beispiel Ausstellung, Führung) spornt sie zu besonderer Leistungsbereitschaft an.
Die Kombination von Archivalien mit Sachüberresten (zum Beispiel aus Museen) konkretisiert die gelegentlich abstrakten Inhalte der Textarbeit und fördert die Motivation.
Jedes Projekt, auch das überwiegend im Archiv realisierte, lebt von der Selbständigkeit der Lernenden. Die Lehrkräfte treten in eine moderierende und beratende Funktion zurück. Trotzdem müssen sie im Vorfeld zusammen mit den Lernenden und vor allem den Archivfachleuten dafür sorgen, dass die zu bearbeitende Aufgabe deutlich umrissen, das anzustrebende Ziel klar formuliert und die Bearbeitungszeit genau begrenzt ist.
Je nach Schulart und Altersstufe der Lernenden wechselt das Mass an zumutbarer Selbständigkeit, an Umfang und Anforderungsniveau der Aufgaben. Dies führt zu fliessenden Übergängen vom bloss projektorientierten Arbeiten bis hin zum Projekt im Vollsinn.
Damit ändert sich auch die Rolle der Archivfachleute. Schon in der gemeinsamen Vorbereitungsphase von Archivfachleuten und Lehrkräften reichen die Möglichkeiten von einer Voraus-Auswahl der Archivalien, die dann allerdings in Eigenverantwortung von den Lernenden bearbeitet werden, bis zu einem blossen Informationsgespräch. Darin werden die geplante Aufgabenstellung, ihre methodischen Ziele und die Eigenheiten der Lerngruppe besprochen. Die Materialauswahl erfolgt gemeinsam durch Archivfachleute und Lernende; die Zusammenarbeit beider steht bei diesem voll entwickelten Projekt im Vordergrund.
Ja - wenn das spielerische Element nicht zum Selbstzweck wird, sondern in einen historischen Kontext eingebunden ist. So können altersstufengemäss historische Einsichten vermittelt werden, die man sogar über Quiz, Lückentexte oder multiple-choice-Fragen abprüfen kann.
Zum Teil sind die spielerisch handlungsorientierten Methoden archivtypisch wie beispielsweise der Nachvollzug mittelalterlicher Schreibgewohnheiten vom Zuschneiden des Federkiels über das Mischen von Tinte bis zum schreibenden Umgang mit alten Alphabeten. Daran haben auch Lernende auf der Oberstufe ihre Freude und selbst erwachsene Besucher, wie die in der Zwischenzeit in jeder grösseren Handschriftenausstellung üblich gewordene Schreibstube verrät.
Zum Teil sind sie Anleihen bei der Museumspädagogik, die derartige Vorgehensweisen schon seit längerer Zeit für sich entdeckt hat. Dazu gehört etwa das Rollenspiel. Es vermittelt einen genauen Einblick in die Inhalte von Archivalien, da eine intensive Beschäftigung damit notwendig ist, bevor dieser in den Spieltext eines Rollenspiels umgesetzt werden kann.
Als weitere Möglichkeit können auch Bildquellen in ein Puzzle zerlegt oder einfach nachgezeichnet werden.
In der Archivpädagogik spielt - wie allgemein in der Archivpädagogk - der Transfer eine sehr wichtige Rolle. Wenn unter Einsatz bestimmter Quellengattungen und Methoden ein Thema in einem bestimmten Archiv bearbeitet worden ist, kann man daraus Grundsätzliches ableiten - also ein Raster entwickeln - wie ein verwandtes Thema in einem vergleichbaren Archiv realisiert werden kann.
Denn die Archivpädagogik will ja nicht einfach gelungene Einzelbeispiele um ihrer selbst willen vorstellen, sondern hat Handreichungscharakter. Dies bedeutet, dass die pädagogischen Überlegungen an - meist exemplarischen - Fällen mit dem Ziel konkretisiert werden, dass daraus ein für den Unterricht an beliebigen Schulorten realisierbarer Archiveinsatz ableitbar ist.
Stadtarchiven kommt für den schulischen Einsatz besondere Bedeutung zu. Trotz individueller Sonderentwicklungen einzelner Städte (zum Beispiel Archivgut zu einem spektakulären Stadtbrand) haben alle Archive dieses Typs einen Kernbestand gleicher Quellengattungen (Ratsprotokolle, Rechnungsbücher, Gerichtsprotokolle, örtliche Zeitungen) so dass sich der Archivtyp Stadtarchiv zusammen mit bestimmten Quellengattungen - beispielsweise den örtlichen Zeitungen - für einen Transfer eignet.