Der Beginn des Jahres in der mittelalterlichen Zeitrechnung deckt sich nicht immer mit dem 1. Januar. Insgesamt gibt es sechs verschiedene Jahresanfänge (25. Dez., 1. Jan., 1. März, 25. März, Ostern, 1. Sept.).
In der deutschsprachigen Schweiz und in Süddeutschland überwiegt bis ins 15. Jahrhundert hinein der sogenannte Nativitätsstil, bei dem der Jahreswechsel auf den 25. Dezember fällt (passend zur Zählung nach Inkarnationsjahren). In der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr (Oktav) ist also die in der Originaldatierung angegebene Jahreszahl um eins zu vermindern. So ist die Kaiserkrönung Karls des Grossen (Weihnachten 800), in den zeitgenössischen Annalen konsequenterweise oft zu Beginn des Jahres 801 eingetragen.
Seit dem 16. Jahrhundert überwiegt der sogenannte Circumcisions- oder Kalenderstil, der dem modernen Jahresanfang am 1. Januar entspricht.
Wegen der Vielfalt der Jahresanfänge sind diese immer sorgfältig zu überprüfen.
Berechnung der Indiktion
Die Zählung der Jahre nach der Geburt Christi (incarnatio = Fleischwerdung) ist die häufigste Jahresbezeichnung seit dem Spätmittelalter. Dabei wird oft das Jahrhundert weggelassen und nur die Zehner und Einer angegeben (mindere zahl). Das Jahrhundert muss dann aus dem Kontext erschlossen werden.
Wegen der verschiedenen Jahresanfänge muss immer geprüft werden, ob die Jahresangabe mit der heutigen übereinstimmt.
Die Indiktion ist eine der häufigsten Jahresbezeichnungen im Mittelalter. Sie wird oft neben den Inkarnationsjahren angegeben. Justinian schreibt sie im 6. Jahrhundert gesetzlich vor. Ihre Herkunft ist nicht sicher geklärt.
Die Indiktion hat einen Zyklus von 15 Jahren, beginnend 3 v. Chr. Sie gibt nur die laufende Ordnungszahl im 15jährigen Zyklus an, nicht die Zahl der vergangenen Zyklen. Der Wechsel der Indiktion ist nicht identisch mit dem Jahresbeginn. Es gibt vor allem die
- indictio Graeca (Stichtag: 1. Sept.) bis 1087 in der päpstlichen Kanzlei in Gebrauch, in der kaiserlichen bis 832
- indictio Bedana (Stichtag: 24. Sept.) im Frankenreich ab ca. 850 in Gebrauch, auch in deutschen Bischofskanzleien (1200-1350)
- indictio romana (Stichtag: 25. Dez. oder 1. Jan.)
Quellenbezeichnungen: indictio (Abk.: ind.), Kaiserliche Zahl, Römisch steurjar, Römerzinszahl, Gedingzeichen oder Zeichen
Hinweis: Um den Indiktionsstil einer Kanzlei festzustellen, ist die Zuverlässigkeit der Angaben an möglichst vielen Urkunden zu überpüfen.
Addiere zur Jahreszahl 3 und teile durch 15. Der Rest ist die gesuchte Indiktionszahl. Wenn das Ergebnis 0 ist, dann ist die gesuchte Indiktionszahl 15. Nach dem Stichtag ist die Indiktion um 1 zu erhöhen. Das Ergebnis kann man mit der Indiktionstabelle überprüfen.
Beispiel
Das Inkarnationsjahr ist 1024.
1024 + 3 = 1027
1027 : 15 = 68 Rest 7.
Ergebnis: 7
Berechnungsformular
Mit Hilfe dieses Formulars kannst du die Indiktionszahl berechnen. Gib eine Jahreszahl ein und klicke auf «Indiktion berechnen»:
Beispiel:
Eine Urkunde Heinrichs V. für das Kloster Einsiedeln ist auf den 2. Oktober 1111 datiert. Der Schreiber gibt als Regierungsjahre 6 (Königtum) und 1 (Kaisertum) an.
Die Tabelle für die Regierungsjahre nennt den 5. Januar 1106 als Beginn der Königsherrschaft und den 13. April 1111 als Tag der Kaiserkrönung.
1111 - 1106 = 5
Da der Tag des Herrschaftsantritts (5. Jan.) vor dem gesuchten Tag liegt (2. Okt.), muss die Zahl um eins erhöht werden.
5 + 1 = 6
Für die Angabe der Kaiserherrschaft ist analog zu verfahren:
1111 - 1111 = 0
0 + 1 = 1
Am 2. Oktober 1111 befand sich Heinrich der V. im fünften Jahr seiner Königsherrschaft und im ersten Jahr seines Kaisertums. Die Angaben in dieser Urkunde sind also korrekt.
Häufig datiert man das Jahr nach der Regierungsjahren von Königen, Kaisern, Päpsten oder Bischöfen. Man beginnt die Zählung mit dem Tag Wahl oder Weihe. Das heisst, dass die Zählung nicht identisch ist mit dem Jahreswechsel der Inkarnationsjahre. In den Datierungen nach Regierungsjahren spiegelt sich auch die politische Situation wieder. Die Päpste z.B. datieren bis etwa 780 ihre Urkunden nach den byzantinischen Kaisern, seither auch nach eigenen Pontifikatsjahren. Um 800 (Kaiserkrönung Karls des Grossen) beginnen die Päpste mit der Datierung nach den Kaiserjahren. Seit 1047, den Jahren der Kirchenreform, zählen sie nur noch ihre Pontifikatsjahre.