Zur mittelhochdeutschen Literatursprache

In Westeuropa ist die Sprache der schriftlichen Kommunikation zunächst fast ausschliesslich Latein. Im Verhältnis zu den in Latein geschriebenen Texten handelt es sich speziell bei der althochdeutschen Überlieferung um eine «Literatur in tastenden Anfängen» (Stefan Sonderegger), da die Textbasis noch äusserst schmal ist. Obwohl sich der schriftliche Anwendungsbereich des Deutschen seit ahd. Zeit immer stärker ausdehnt, ist die Masse der verfassten Texte allerdings noch bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts lateinisch. Erst danach überwiegt das Deutsche.

Einen deutlichen Fortschritt macht das Deutsche im 13. Jahrhundert als Urkundensprache. Das allgemeine Ansteigen der deutschsprachigen Textproduktion hat diverse Gründe: Deutsch ist Wirtschafts- und Verwaltungssprache in den Städten, Schulen werden eingerichtet, wo Deutsch statt Latein gelehrt wird, von den Humanisten werden viele Werke ins Deutsche übersetzt und der Buchdruck fördert das Aufkommen neuer Textsorten ohne unmittelbares Vorbild, wie z. B. Flugschriften.


Schriftdialekte in mittelhochdeutscher und mittelniederdeutscher Zeit

Bis zur Verwendung der überregionalen Schriftsprache im deutschsprachigen Raum um die Mitte des 17. Jahrhunderts wird das Deutsche in verschiedenen Schreibdialekten und Schreibsprachen überliefert. Von Schreibdialekten spricht man für die Zeit des Mittelalters und Spätmittelalters. Diese Schreibdialekte zeigen die «Spannung zwischen Schriftlichkeit und Mundart oder Dialekt» (Werner Besch) und bewahren teilweise alte regionale Besonderheiten, so bewahrt das Alemannische bis ins 15. Jahrhundert das Wort erbaermde für Barmherzigkeit.
Durch den beginnenden schriftlichen Ausgleich verschwinden im 16. Jahrhundert dann viele solcher regionaler Besonderheiten, bleiben aber teilweise dialektal erhalten. Aus den Schreibdialekten resultiert die Aufteilung in die frühnhd. Schreibsprachen, die zwar nach wie vor landschaftlich geprägt sind, aber weniger stark. So zeigen alemannische Texte im Bereich der Lautung lang i gegenüber bairisch ai/ei (win/wyn - wein); im Bereich des Wortschatzes wird oberdt. das Verb mangeln gegenüber mitteldt. darben bzw. entperen verwendet.

Die hoch- und niederdeutsche Dialektlandschaft. Aus: Werner König/Stephan Elspaß/Robert Möller: dtv-Atlas Deutsche Sprache. Mit Grafiken von Hans-Joachim Paul. © 1978, 1994, 2007 dtv Verlagsgesellschaft, München.
Die Grafik enthält einen Fehler: "Oberdeutsch" und "Ostmitteldeutsch" wurden verwechselt.

Die deutschen Sprachlandschaften basieren auf den deutschen Dialektlandschaften. Die Einteilung der Dialektlandschaften ist in der Durchführung der 2., ahd. Lautverschiebung begründet, nach der die Laute p, t, k unterschiedlich realisiert werden: Südlich einer Linie als offen, Apfel, Wasser, Zeit, machen, nördlich davon aber als open, appel, water, tid, maken. Daraus ergibt sich die Einteilung in Hoch- und Niederdeutsch. Hoch benennt hier die geographisch höher liegenden Regionen.
Das Hochdeutsche wird wiederum in Ober- und Mitteldeutsch eingeteilt. Zum Oberdeutschen zählen die alemannisch-schwäbischen, die bairischen und die ostfränkischen Dialekte. Einzig im Alemannischen und Südbairischen wirkt sich die 2. Lautverschiebung in vollem Umfang aus mit dem Wandel von k > kch/ch.
Das Mitteldeutsche ist eine Staffellandschaft, die unverschobene und verschobene Formen hat: das Westmitteldeutsche in der Gegend von Frankfurt am Main beispielsweise hat appel und pund; das Ostmitteldeutsche hat appel und fund. Für das Oberdeutsche braucht man andere Kriterien, um zwischen bairischen und alemannischen Sprachlandschaften zu unterscheiden.

St. Gallen, alemannisch
Ende 8. Jahrhundert
Freising, bairisch 9. Jahrhundert
Fater unseer, thû pist in himile, uuihi namun dinan, qhueme rihhi dinuuerde uuillo diin, sô in himile sôsa in erdu.prooth unseer emezzihic kip uns hiutu,oblâz uns sculdi unseero, sô uuir oblâzêm uns sculdikêm,enti ni unsih firleiti in khorunka, ûzzer lôsi unsih fona ubile.
Fater unsêr, der ist in himilom, kæuuîhit uuerde dîn namo,
piqueme rîhi dîn, uuesse uuillo dîn, sama ist in himile,
enti in erdu.
pilîpi unsaraz kip uns emizîcaz, enti vlâz uns
unsero sculdi, sama sô uuir flâzzemês unserêm scolom,
enti ni verleiti unsih in die chorunga, ûzzan ærlôsi unsih
fona allêm suntôm.

Text aus Schmidt, Wilhelm, Geschichte der deutschen Sprache. Ein Lehrbuch für das germanistische Studium, 8. völlig überarb. Aufl., Stuttgart 2000, S. 195.

Die ahd. Dialektlandschaft umfasst diejenigen Gebiete, die irgendeinen Anteil an der 2. Lautverschiebung haben. Von Süden nach Norden nimmt der Anteil der Merkmale deutlich ab. Das Altniederdeutsche, die Vorläufersprache des Niederdeutschen, hat keinen Anteil an der Verschiebung und wird daher nicht zum Ahd. gerechnet. Die Hauptorte ahd. Überlieferung lassen sich grob den drei Sprachlandschaften Alemannisch, Bairisch und Fränkisch zuordnen. Die St. Galler Benediktinerregel beispielsweise ist alemannisch. Althochdeutsch ist in verschiedene Mundarten und Schreibdialekte gegliedert. Der Vergleich des «Vater unser» aus dem alemannischen St. Gallen und dem bairischen Freising zeigt zahlreiche Unterschiede im Bereich

1.  der Schreibung: du als thu – dû – thû, Versuchung als khorunka - chorunga,
2. der Wortbildung: kommen als qhueme – piqueme, erlösen als lôsi – ærlôsi,
3. der Lexik: Brot prooth, pilipi und Sünde ubile, suntôm
4. der Syntax: noch keine Verb-Zweitstellung enti ni unsih firleiti in khorunka, Stellung des Pronomens: alem. namun dinan, sculdi unseero und bair. dîn namo, unsero sculdi.

Die Verschriftung ahd. Texte erfolgte ausschließlich in klösterlichen Skriptorien. Das ahd. Schrifttum ist auf weite Strecken als lat.-ahd. Übersetzungsliteraturcharakterisiert: beginnend bei den Glossen in lateinischen Handschriften bis hin zur zeilengetreuen Übersetzung wie dem ahd. Tatian.
Alle diese Quellen haben eine stark didaktische Funktion: Es geht um die Wissensvermittlung der neuen christlichen Lehre. Glossen wurden niedergeschrieben, um schwierige lat. Wörter besser verstehen zu können, die Übersetzungen dienen der religiösen Unterweisung. Die ahd. Übersetzungen sollen helfen, das Lateinische besser zu verstehen. Um das Christentum erklären zu können, müssen die neuen Inhalte verständlich gemacht werden: Entweder übernehmen die Übersetzer lat. Lehnwörter wie lat. altāre - ahd. altāri, oder sie schaffen neue Wörter mit ahd. Sprachmaterial, vielfach mit mehreren Varianten: lat. ascensu: ahd. ūffart (Auffahrt) und himelvart (Himmelfahrt) oder lat. misericordia (Barmherzigkeit): ahd. miltida, ginada, armherziu, irbarmherzi u. a.

Ein Beispiel ahd. Übersetzungsliteratur: Der ahd. Tatian
linke Spalte: lateinisch - rechte Spalte: althochdeutsch

Deutsches Sprachgebiet um 1000

Was für das Althochdeutsche gilt, gilt auch für das Mittelhochdeutsche: Die Texte sind in vielen regional variierenden Schreibdialekten überliefert. Für diese Epoche können sechs grossräumige Sprachlandschaften unterschieden werden: alemannisch, bairisch, ostfränkisch, (süd)rheinfränkisch, west- und ostmitteldeutsch. In mhd. Zeit werden die Dialekte dieser Regionen lantsprachen genannt.

In diese Zeit fällt auch die Ausbreitung des deutschen Sprachgebietes durch die sogenannte Ostkolonisation, indem slawische Sprachgebiete östlich der Elbe und Saale kolonisiert wurden. Hier haben sich im 12. und 13. Jahrhundert aufgrund der Herkunft der Siedler aus verschiedenen Sprachlandschaften Ausgleichs- und Mischmundarten herausgebildet.
Problematisch für die Rekonstruktion des Mittelhochdeutschen bleibt, dass viele mhd. Sprachdenkmäler erst aus dem 14. oder 15. Jahrhundert überliefert und «an den Schreibtraditionen dieser späteren Zeit orientiert sind» (Wilhelm Schmidt).

Gegenüberstellung einer kritischen, normalisierten Edition des «Iwein» von Hartmann von Aue und einer handschriftlichen Überlieferung


Text aus Schmidt, Wilhelm, Geschichte der deutschen Sprache. Ein Lehrbuch für das germanistische Studium, 8. völlig überarb. Aufl., Stuttgart 2000, S. 97.

In der Handschrift werden z. B. keine Langvokale gekennzeichnet; v wird für u verwendet, als Satzzeichen kommt nur der Punkt vor.

Bei der Sprache der höfischen Dichter kann eine Tendenz zur Vereinheitlichung beobachtet werden: allzu landschaftlich gebundene Ausdrücke werden vermieden, Überregionales bevorzugt. Darüber hinaus zeigen sich Übereinstimmungen vor allem im Wortschatz, im Stil und in den Reimen. Dies erlaubt oft nicht, Texte einer bestimmten Region zuzuordnen. Man kann jedoch von keiner mhd. Schriftsprache im heutigen Sinn sprechen, eher von einem literarischen Funktiolekt.
Darüber hinaus liegen uns die meisten mhd. Texte in normalisierten Editionen vor, die eine geregelte Orthographie aufweisen, z. B. wird zwischen Lang- und Kurzvokal unterschieden. Die Handschriften selbst zeigen nie diese Regelmässigkeit. Zu dieser Vereinheitlichung ist es vor allem deswegen gekommen, weil die Forschung im 19. Jahrhundert von der Existenz einer mhd. Schriftsprache ausgegangen ist, die in den Handschriften durch die späteren Abschreiber quasi verdorben wurde. Bei der Edition dieser Texte hat man daher versucht, sie in den vermeintlichen Urzustand zurückzuführen.

Die Cronica van der hilliger Stat va Coelle, Köln 1499, Druck: Johann Koelhoff d. J.

Transkription:

Cronica off dat tzytboich van den geschichten
der vergangen Jairen in duytsche- landen vnd
sunderlinge der heilger Stat Coellen vnd yrer
busschoue.
Jn dem namen vnd zo der Eren der hilliger vnd vngedeylter drijueldicheyt des
vaders des soins vnd des hilligen geystes Marien godes moder. vnd der hilliger drij
konijnge Jaspar Balthasar Melchior Amen.

Übersetzung:

Die Chronik von der heiligen Stadt Köln
Chronik von dem Zeitbuch von den Geschichten der vergangenen Jahre in deutschen Landen und besonders von der heiligen Stadt Köln und ihrer Bischöfe.
Im Namen und zu Ehren der heiligen und ungeteilten Dreifaltigkeit des Vaters des Sohns und des heiligen Geistes, Mariens der Gottesmutter und der drei Heiligen Könige Kaspar, Melchior und Balthasar Amen.

zitiert nach: Bonner Frühneuhochdeutschkorpus, online unter: http://www.korpora.org/Fnhd/, Text 153.

Zu Beginn der frühnhd. Epoche haben wir es nach wie vor mit verschiedenen Schreibsprachen zu tun, die am Ende dieser Epoche jedoch in eine mehr oder weniger einheitliche deutsche Schriftsprache übergehen. Die Vorgänge dazwischen sind von ganz verschiedenen Faktoren geprägt.
Im 15. Jahrhundert gibt es zwar viele Verbindungen zwischen den einzelnen Landschaften, aber keine Sprachlandschaft verfügt über eine sprachliche Autorität. In dieser Zeit ist der unterschiedliche Wortschatz noch ein grosses Hindernis in der Verständigung. Das 16. Jahrhundert kann als das Jahrhundert der grossräumigen Integration auf der schreibsprachlichen Ebene bezeichnet werden, v. a. der Ausgleich zwischen dem Ober- und Ostmitteldeutschen ist hier kennzeichnend. Eigentümliche Schreibtraditionen werden teilweise aufgegeben. Die hochalemannische Schreibsprache der Schweiz übernimmt punktuell die nhd. Diphthonge. Die ripuarische Schreibsprache von Köln, die eher im Einklang mit dem Niederländischen steht, wird relativ abrupt aufgegeben.

Sebastian Brants Narrenschiff (1494)
zur Veranschaulichung der unterschiedlichen Textgestalt je nach Druckort:

Vergleich zweier frühneuhochdeutscher Drucke aus Basel und Nürnberg. Landschaftliche Unterschiede in Sebastian Brants Narrenschiff (1494).

Die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg bringt ab 1450 in sprachlichen und kommunikativen Bereichen neue Elemente hinzu. Beispielsweise kann man mit der neuen Technik schneller auf aktuelle Ereignisse reagieren. Diese Möglichkeit hat die Herausbildung neuer Textsorten zur Folge, wie Flugschriften und erste Vorläufer von Zeitungen. Die Drucker produzieren primär für einen regionalen Markt und richten die sprachlichen Formen nach diesem Markt aus. Der Zürcher Drucker Froschauer beispielsweise verwendet für den lokalen Markt die alem. Monophthonge wie in Hus, für den überregionalen Markt die neuen Diphthonge wie in Haus.
Analog zu den mhd. und frühnhd. Sprachlandschaften lassen sich sieben Druckersprachen unterscheiden, die bis zum schriftsprachlichen Ausgleich um 1650 in unterschiedlicher Weise aufeinander einwirken und zu verschiedenen Zeiten normbildend sind. So gleichen sich um 1570 die oberdeutschen Druckersprachen dem mitteldeutschen Schreibusus an und der «Schwerpunkt der schriftsprachlichen Bewegung» (Virgil Moser) verlagert sich nach Frankfurt.